Sichtbar werden

Ich liege auf dem Zahnarztstuhl und habe schwitzige Hände. Mein Herz klopft bis zum Hals, ich starre die Tür an und zähle die Sekunden. Gleich wird sie aufgehen, denke ich und dann… Es ist nicht die Angst vorm Zahnarzt, die ich verspüre, sondern ist es die Angst vor einer Begegnung der ganz besonderen Art.

Vor einem Monat habe ich mich auf die Suche nach meinen vier Halbgeschwistern gemacht. Mein Vater hat sich während der Schwangerschaft meiner Mutter von ihr getrennt und klar mit ihr vereinbart, dass er eine Begegnung mit mir nicht wünscht. Ich habe das mein Leben lang akzeptiert, wobei es auch mal schwache Momente gab und ich den Kontakt zu ihm suchte. Per Brief oder später per Mail. Ich wusste ja, wer er war und wo er lebte. Dann schickte ich ihm als Kind meine Zeugnisse, in denen er sehen konnte, wie klug seine Tochter ist oder später die Geburtstanzeigen meiner beiden Kinder und Fotos von ihnen. Es waren ja seine Enkel. Seine Reaktionen auf meine Bemühungen waren nicht unfreundlich, aber eindeutig und bestimmt: Kontakt absolut nicht erwünscht! Es war jedes Mal ein Stich ins Herz verbunden mit der Frage nach dem Warum.

Dass er mir bis heute eine Begegnung verweigert liegt wohl in erster Linie daran, dass ich das dunkle Geheimnis in seinem Leben bin. Außer seiner Frau und seiner längst verstorbenen Mutter weiß niemand um meine Existenz. Auch nicht seine vier mittlerweile erwachsenen Kinder. Er erwartet von mir, dass ich akzeptiere, für den Rest meines Lebens verborgen zu bleiben und nicht ans Licht zu kommen, denn das würde sein Leben komplett ins Chaos stürzen.

In guten Phasen ist mir das egal, aber manchmal empfinde ich eine große Trauer darüber und eine heftige Wut. So war es auch im Sommer 2011. Wenn er mich schon nicht will, so dachte ich, dann wollen mich vielleicht meine Halbgeschwister! Doch wie finde ich Menschen, deren Nachnamen ich nur kenne und mehr nicht? Die Suche war mühsam und wenig erfolgreich. Ich wollte schon aufgeben als ich bei meinen Recherchen auf einen Zahnarzt stieß, der den selben Nachnamen wie mein Vater hatte. Ich ging auf die Homepage der Praxis, klickte TEAM an und eine Seite öffnete sich, in der ich schnell erfassen konnte, mit wem ich es zu tun hatte. Der Lebenslauf sprach für sich, das Foto auch. War dieser nette Mann wohl wirklich einer meiner vier Halbgeschwister? Ich hatte das Gefühl, ich war auf einmal ganz nah dran.

Also schrieb ich ihm eine Mail, in der ich danach fragte, ob er der Sohn von Dr. T. sei und ich gerne mit ihm in Kontakt treten würde, um eine familiäre Angelegenheit zu klären. Er antwortete nicht. Hatte er die Mail nicht bekommen? Oder hatte er sie gleich gelöscht, weil sie zu suspekt formuliert war? Jetzt wollte ich nicht aufgeben, also rief ich in der Praxis an und ließ mir einen Termin geben. „Sind Sie schon Patientin bei uns?“ „Nein, ich bin neu bei Ihnen.“ Gut, dann gebe ich Ihnen einen Termin bei Frau Dr. K am…“ „Entschuldigung, ich möchte bitte einen Termin bei Herrn Dr. T, das ist mir ganz wichtig.“ „Kein Problem, dann geht es allerdings erst in vier Wochen am Dienstag um 9 Uhr. Passt Ihnen das?“

Vier Wochen sind mittlerweile verstrichen. Und jetzt liege ich auf diesem Stuhl und warte auf den Moment, wo sich die Tür öffnet. Ich versuche ruhig zu bleiben und schließe die Augen. Plötzlich höre ich, wie jemand die Klinke herunterdrückt und dann steht er vor mir. Es sieht jungenhafter und dynamischer aus als auf dem Foto der Praxisseite. Und er sieht mir tatsächlich ähnlich. Ich starre ihn an, er lächelt, kommt auf mich und reicht mir seine Hand: „Hallo, schön dass wir uns endlich kennenlernen, das hätten wir schon längst tun sollen, verschwendete Zeit. Na dann können wir uns beide ja jetzt duzen!“

Mittlerweile sind sechs Jahre vergangen und wir haben ein wunderbares Verhältnis zueinander. Trotz unterschiedlicher Sozialisation haben wir beide den gleichen Humor, genießen gern, kommunizieren ähnlich und mögen das Spontane. Bei ihm kann ich sichtbar sein. Und das ist das Allerwichtigste!

 

U.W.